Interview für die Orthopress September 2018

Den wirklichen Ursachen auf den Grund gehen
- Die Kompetenzsprechstunde bei Nacken- und HWS-Schmerzen

Wenn Nackenschmerzen immer wiederkommen, steckt meist mehr dahinter, als verspannte Muskulatur. Nur wenn die wirklichen Ursachen bekannt sind, kann zielbringend therapiert werden. Der Wiesbadener Nackenspezialist und Sportmediziner Dr. Marco Gassen hat sich seit mehr als 10 Jahren auf die Untersuchung und konservative Behandlung bei Schmerzen der Nacken-muskulatur und Halswirbelsäule fokussiert.

Orthopress: 
Herr Dr. Gassen, Sie bieten in Ihrer Praxis eine Spezialsprechstunde für Patienten mit Nackenschmerzen an. Warum sehen Sie dafür eine Notwendigkeit?

Dr. Gassen:
Nackenschmerzen sind ein sehr weit verbreitetes Problem. Die Patienten, die zu uns kommen, haben oft seit Jahren, nicht selten über Jahrzehnte Beschwerden. Viele schildern zusätzlich z.T. gravierenden Nebensymptomen wie ständige Blockierungen, Knacken, Kopfschmerzen, Schwindel, Benommenheit oder Ohrgeräusch. Die meisten Patienten haben über Jahre hinweg unzählige Behandlungen z.B. mit Massage, Manualtherapie oder Osteopathie erhalten. Fast alle Patienten berichten mir, dass diese Behandlungen zwar angenehm sind, aber immer nur zu einer begrenzten Linderung der Beschwerden führen.

Orthopress: 
Wie lässt sich das aus Ihrer Erfahrung erklären?

Dr. Gassen:
Dafür gibt es im wesentlichen 2 Gründe. Fast immer wird  nur die verspannte Nackenmuskulatur behandelt. Entgegen der häufigen Meinung, ist diese aber nach unserer Erfahrung in 90 Prozent der Fälle nicht die Ursache der Beschwerden. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen auch, dass Abnutzungen  an der Halswirbelsäule nur selten die Hauptursache der Beschwerden sind. Denn so einfach mechanisch funktioniert unser Körper nicht. Der Mensch ist ein hochkomplexes System, in dem die Muskulatur ein kleiner, aber sehr wichtiger Baustein ist. Besonders in dem sehr sensiblen Nackenfeld wirken viele Bereiche zusammen. Wenn wir das nicht berücksichtigen, besteht immer die Gefahr, die wirklichen Ursachen nicht erkannt zu haben.
Der zweite Grund ist offensichtlich, es gibt leider nur sehr wenig Ärzte, die sich auf die genaue Untersuchung und nicht operative Behandlung bei chronischen Nackenschmerzen spezialisiert haben.

Orthopress: 
Wie können wir dann die Ursachen von Nackenschmerzen besser verstehen?

Dr. Gassen:
Nackenschmerzen sind ein reaktives Symptom, das viele verschiedene Gründe haben kann.
Wir können Sie eher mit einem Computerprogramm, das an einer bestimmten Stelle nicht richtig funktioniert, vergleichen -auch hier ist die „Hardware“ meistens unschuldig.
In diesem Fall benötigt es dann ein ausreichendes Wissen  und viel Erfahrung, um die komplexen Zusammenhänge zu verstehen.

Orthopress: 
Wie kann bei dieser Komplexität dann ein erfolgreicheres Vorgehen aussehen?

Dr. Gassen:
Wenn wir verstanden haben, dass Nackenschmerzen ein Symptom sind und lokale Behandlungen nur das Symptom lindern, dann ist der wichtigste Schritt herauszufinden, welche Ursachen zu den Verspannungen führen. Hierzu ist es ganz wichtig, dass wir die Besonderheit der Halswirbelsäule und der umgebenden Muskulatur kennen.
Denn die gesamte Halswirbelsäule ist stark in unser Nervensystem eingebunden. Unsere Augenbewegungen, die Position der Ohren, das Kiefergelenk und die Kaumuskulatur, das obere Becken, Stoffwechsel, auch unser seelisches Befinden, um nur einige zu nennen, haben direkte Verbindung zur Nackenmuskulatur. Von all den verschiedenen Strukturen und natürlich deren Störungen, wird die Halswirbelsäule beeinflusst. Auch unerkannte Schäden durch einen früheren Unfall, eine Überbeweglichkeit die oft übersehen wird, oder eine Stoffwechselstörung können verantwortlich sein.

Orthopress: 
Aber wie finden Sie für den Patienten dann die richtige Therapie?

Dr. Gassen:
Damit wir für den Patienten die beste Lösung finden, müssen wir zwei Vorgehen miteinander verbinden.
Als erstes sollten wir genau hinschauen und überprüfen, welche Faktoren bei dem einzelnen Patienten eine Bedeutung haben können. Ich nenne es differenzielle Orthopädie, d.h. wir analysieren die Schmerzen aus den verschiedenen Blickwinkeln. Dabei überprüfen wir z.B. Kaumuskulatur, Kiefergelenk, Brustwirbelsäule und alle anderen Faktoren auf Auffälligkeiten. Zusätzlich haben wir Untersuchungsmethoden entwickelt, die uns helfen einzuschätzen, ob z.B. ein Zusammenpressen der Zähne, eine unterschiedliche Beinlänge, oder eine muskuläre Dysbalance für die Nackenschmerzen bedeutsam sind oder nicht.

Das Wichtigste ist, anschließend die einzelne Befunde in eine Gesamtübersicht zu bringen. Man könnte es mit einem Puzzle vergleichen, welches der Arzt und der Patient zusammen betrachten. Im letzten Schritt wird hinsichtlich Erfahrungen, Wissen und Umsetzbarkeit gemeinsam die richtige, bzw. erfolgversprechendste Strategie festgelegt.

Orthopress: 
Wie sieht so ein Untersuchungsablauf bei Ihnen aus?

Dr. Gassen:
Zunächst steht die Anamnese im Vordergrund. Mir ist es wichtig, dass wir den gesamten Verlauf der Beschwerden berücksichtigen. Der Patient sollte  vorher einen Fragebogen ausfüllen und kann seine ganzen Befunde bereits vor dem Untersuchungstermin einreichen. So können wir uns optimal auf das Gespräch und die Untersuchung vorbereiten. Oft bekommen wird dabei schon sehr wichtige Hinweise.
Bei der Untersuchung schauen wir uns erst die Körperstatik im Stehen an, dann folgt die genaue Untersuchung der Halswirbelsäule und der umgebenden Strukturen wie z.B. von Kiefergelenk, Kaumuskulatur und Brustwirbelsäule.
Bei chronischen Muskelverspannungen, können wir mit der Ultraschall-Elastografie sehr genau die Spannung und Elastizität der Muskeln und Faszien im Nacken sichtbar machen.
Für weitere Untersuchungen zur Stabilität und Funktion der Halswirbelsäule steht uns unser spezielles Bewegungslabor z.B. für Kraftmessungen der Nackenmuskulatur und Haltungsanalysen zur Verfügung. Hier können wir die Muskeltätigkeit unter realen Bedingungen beobachten.

Orthopress: 
Welche Therapieempfehlungen können aus diesen Untersuchungen folgen?

Dr. Gassen:
Auch in der Behandlung ist es wichtig, dass wir berücksichtigen, wie vielfältig das Zusammenspiel der einzelnen Faktoren ist. Behandelt man nur die Folge, kann dies zwar kurzfristig aber nicht dauerhaft Linderung bringen. Ein ganzheitlicher Ansatz ist unbedingt nötig, damit wir ein individuelles Behandlungsprogramm entwickeln können.

Oftmals macht es deshalb Sinn, Behandlungsansätze zu kombinieren, um die verschiedenen Störungen möglichst optimal zu erreichen. Mit der fokussierten Stoßwellentherapie können wir z.B. tiefliegende Muskeltrigger oder Faszien lösen. Begleitend kann ein Kräftigungsprogramm für die obere Rückenmuskulatur durchgeführt werden.
Es gibt allerdings auch Situationen, in denen wir nicht sofort ein Training, sondern erst ein Biofeedback empfehlen. Hierbei kann der Patient, wie bei einem EKG, genau sehen welche Muskulatur er mit seinen Übungen an- oder entspannt. Damit gelingt ein sehr schnelles erlernen von Übungen, die genau den Muskel erreichen, der gestärkt werden soll.

Orthopress: 
Das hört sich sehr ausführlich, aber auch aufwendig an. Ist das denn notwendig?

Dr. Gassen:
Ja, das ist auf jeden Fall ausführlich und aufwendiger als eine schnelle Untersuchung, eine Rezeptverordnung oder eine symptomatische Behandlung.
Aber wenn ich es mit der Zeit für die oft mehr oberflächlich ansetzenden Behandlungen oder Arztbesuche  vergleiche, wird der Aufwand demgegenüber sehr gering.
Bei den meisten Patienten müssen wir leider feststellen, dass alle Beteiligten sich letztlich sehr viel Zeit und Geld gespart hätten, wenn frühzeitig die wesentlichen Faktoren analysiert und genau betrachtet worden wären.

Orthopress: 
Vielen Dank.

Orthopressartikel Nackenschmerzen im Orginal als PDF-Datei